Marlen Hobrack fragt, wie man vom Arbeiterkind zur Klassenbeste werden kann. Sie selbst ist ein Kind der späten DDR und wurde 1986 in Bautzen geboren. Ihre Mutter und ihre Großmutter
waren Arbeiterinnen. In Dresden studierte Marlen Hobrack unter anderem Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte. Zwischen Bachelor und Master arbeitete sie einige Jahre lang in einer
Unternehmensberatung. Sie schreibt regelmäßig für die ZEIT, die TAZ, den FREITAG und die Welt. Ich habe mit ihr für den Deutschlandfunk „Büchermarkt“ gesprochen.
Frage: Welche Ausgangsirritation oder –beobachtung hat zu „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft“ geführt?
Antwort: Ich habe, wie viele andere Leser, sehr begeistert die neue Klassenliteratur der letzten Jahre gelesen. Denken Sie an Christian Baron, an Édouard Louis, also Erzählungen aus der
Arbeiterklasse. Ich fand die Bücher wunderbar. Was mir darin allerdings fehlte, war die Figur der Arbeiterinnen. Es kommen in diesen Büchern Frauen vor als Ehefrauen, als Hausfrauen und
Mütter, auch als emotionales Zentrum der Texte dieser Söhne. Aber die Arbeiterin als Figur, die der Erwerbsarbeit nachgeht, die in der Produktion beschäftigt ist, die kam darin nicht vor, und
das hat mich ein bisschen gewurmt und war der Ausgangspunkt für das Nachdenken über dieses Buch. Was ist eigentlich mit dieser Figur der Arbeiterin? Warum ist sie so unsichtbar in der
Literatur? Aber auch in den verschiedenen Diskursen.
Frage: Nach Sigmund Freud ist es ja nie verkehrt, erstmal nach der Mutter zu fragen. Genau das machen Sie auch, allerdings mit zahlreichen Klassenfragen. Ihre Mutter war Arbeiterin in der
DDR. In welcher Weise können Sie entlang Ihrer Mutter eine Geschichte erzählen, die mögliche Aporien derzeitiger Debatten – von Klassismus bis zur Identitätspolitik – auflöst?
Antwort: Wir erleben seit einigen Jahren innerhalb der linken Bewegung selbst ein Widerstreit über die Frage soll man über Klasse reden? Oder soll man über Identitäten sprechen? Viele
Menschen, die sich als klassische Linke bezeichnen, sagen: „hört auf, über Identitäten zu sprechen. Wir müssen lieber über das normale Leben der normalen Menschen reden, über deren Kämpfe und
über Ungerechtigkeiten. Ich versuche, mit „Klassenbeste“ zu zeigen, dass sich die Klassenfrage schlichtweg nicht von Identitätsfragen lösen lässt. Am Beispiel meiner Mutter lässt sich das
sehr gut zeigen. Sie gehört der Arbeiterklasse an, steigt in die Mittelschicht auf, aber sie bleibt eine Frau ihrer Klasse.
Als Frau der Arbeiterklasse startet sie mit anderem Reisegepäck ins Leben, da die Erwartungen an sie als Frau ihrer Klasse nochmal anderes sind als die an Männer der Arbeiterklasse. Das
heißt, all das Gepäck, das Menschen der Arbeiterklasse generell mit sich herumtragen, beispielsweise die Tatsache, dass sie sich selbst und dass sie auch von anderen oft nur über ihre
Arbeitskraft definiert werden, die wird nochmal verstärkt durch dieses Frausein. Wozu beispielsweise gehört, dass sie von Anfang an für ihre kleinen Geschwister sorgen, dass sie im Haushalt
helfen muss; was wir heute als Care-Arbeit bezeichnen.
Der dritte Punkt ist wiederum eine Identitätsfrage, die sich hier in der Klassenfrage offenbart; die Tatsache, dass sie in der DDR geboren und sozialisiert wurde und die Arbeiterin einen
anderen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft hatte. Die Arbeiterklasse insgesamt. Das spielt eine Rolle für die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung – umso mehr nach der sogenannten
Wende nach 1989.
Frage Es ist auch ein Buch über Sie selbst, Frau Hobrack, ein Buch, in dem Sie erzählen, in welcher Weise Klassenunterschiede die Sicht auf Mutterschaft kontaminieren. Weshalb ist in
Bezug auf Mutterschaft das Phänomen der Klasse besonders augenfällig?
Antwort: Ich bin mit 19 Jahren zum ersten Mal Mutter geworden. Und es gibt dieses Bild von Mutterschaft. Es gibt eine Mittelschichts-Mutterschaft, die findet, sagen wir mal, eher in den
Dreißigern statt, also in den Dreißiger-Jahren einer Frau, vielleicht auch erst mit Vierzig. Das ist eine gutsituierte Mutterschaft. Da sind die Verhältnisse geregelt. Man ist idealerweise in
einer festen Beziehung, man ist verheiratet, man hat ein paar Jahre gearbeitet.
Wenn das nicht der Fall ist, wenn eine Frau sehr jung Mutter wird, noch vor dem eigentlichen Eintritt ins Arbeitsleben, oder wenn sie vielleicht sogar Hartz-IV-Empfängerin ist, dann findet
eine Abwertung statt, weil diese Vorstellungen, die wir von guter Mutterschaft haben, auch diese ganzen Leitbilder des Mutterseins – also wie muss eine Mutter sein? – die sind sehr
bürgerlich. Da muss man vielleicht sogar ein bisschen vorsichtig sein, weil wir nicht mehr in der bürgerlichen Gesellschaft leben. Wir leben in einer Mittelschichtsgesellschaft, aber es sind
doch bürgerliche Leitbegriffe und Werte, die da verhandelt werden. Jeder, der da rausfällt, wird häufig als schlechte Mutter abgestempelt. Dabei gibt es emotionale und psychische Faktoren
beim Muttersein und nicht nur ökonomische und soziale Faktoren, die entscheidend sind.
Frage: An einer Stelle schreiben Sie, Sie hätten große Probleme damit, wenn feministische Analysen selbstverständlich vom Patriarchat reden, ganz so, als existiere es noch. Sie schreiben
auch, dass der männliche Körper weder aus kapitalistischer noch aus identitätspolitischer Perspektive schützenswert erscheint. Welches Problem stellt sich hier offensichtlich dar?
Antwort: Es gibt ja schon bei Karl Marx im 19. Jahrhundert die Bemerkung, der Kapitalismus habe zuletzt auch das Patriarchat zerstört. Ich bevorzuge für die heutige Situation tatsächlich die
Bezeichnung „Hegemonie der Männlichkeit“, weswegen es nicht schwer ist, dass Frauen in diese hegemonialen Strukturen der Männlichkeit integriert werden können, sofern sie sich den
Verhaltensmustern anpassen. Mein Vater war weder der Hauptverdiener, hat im Gegenteil weniger verdient, weniger gearbeitet als meine Mutter. Er war auch nicht das emotionale Zentrum. Er hat
sich nicht mit Care-Arbeit beschäftigt, und hatte insofern keine Rolle, auch keine Autorität.
Er hat Macht oder Gewalt ausgeübt. Das war ein Zeichen seiner Schwäche und seiner eigentlichen Machtlosigkeit. Ich glaube, dass für ganz viele Männer der Arbeiterklasse eine Erfahrung ist,
dass sie in ihren Familien vielleicht Autorität oder Macht ausüben, weil sie in der Gesellschaft eine relative Machtlosigkeit erleben, auch eine Indifferenz der Gesellschaft ihm gegenüber.
Statistisch liegt die Lebenserwartung von Arbeitermännern zehn Jahre unter der eines Beamten, was aber im Rentendebatten gar nicht berücksichtigt wird.
Es trauert niemand um Arbeiterkörper, die vor der Zeit sterben. Mein Vater ist mit Mitte 50 gestorben. Mein Großvater ist mit Mitte 50 gestorben, die haben das reguläre Rentenalter nicht mal
annähernd erreicht. Und ich glaube nicht, dass diese Arbeiterkörper, egal ob männlich oder weiblich, wirklich betrauert werden von der Gesellschaft und gesehen werden in dem, was sie
letztlich leisten.
Marlen Hobrack: „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“,
Hanser Literaturverlage, 224 Seiten, 22 Euro